Endlich frei! by Mahtob Mahmoody

Endlich frei! by Mahtob Mahmoody

Autor:Mahtob Mahmoody [Mahmoody, Mahtob]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Bastei Entertainment
veröffentlicht: 2015-03-04T16:00:00+00:00


KAPITEL 20

Es grenzt an ein Wunder, dass ich am Ende des Sommers 1994 gesund genug war, um nicht nur wieder die Schule zu besuchen, sondern sogar ins Internat zu gehen. Ich war vierzehn, als ich ins Schülerheim des Michigan Lutheran Seminary zog, und mir war angst und bange. Zwar hatte ich mir diesen Ortswechsel selbst gewünscht, aber es war trotzdem ein Ortswechsel, und so richtig glücklich war ich darüber nicht.

An einem Sonntagnachmittag fuhr mich Mom zu meinem neuen Zuhause. Mein Leben am Michigan Lutheran Seminary begann so, wie jeder Tag dort beginnen und enden würde – mit einem Gottesdienst. Als der Pastor das Schlusslied ankündigte – Lied Nr. 332 –, verriet mir ein Blick in die Liedmappe, dass im Anschluss daran die Schüler ihre Betreuer treffen und die Eltern die Heimfahrt antreten würden. Mir saß ein dicker Kloß im Hals. Ich wollte nicht, dass Mom wegfuhr. Ich wollte nicht hierbleiben. Ich hatte es mir anders überlegt. Vielleicht war es ja gar nicht so schlecht in Alpena.

Am Morgen hatten Mom und ich den Gottesdienst in Salem besucht. Als der Pastor mitten im Gottesdienst bekanntgab, dass Mrs. Hatzung gestorben sei, konnte ich die Tränen nicht länger zurückhalten. Ihr Kampf gegen den Brustkrebs war zu Ende, ihr Erlöser hatte sie zu sich gerufen. Ich wusste, dass das eigentlich gut war. Trotzdem erschien es mir unfassbar, dass sie nicht mehr da sein sollte.

Mrs. Hatzung hatte mich nicht nur unterrichtet, sie hatte mich auch umsorgt und gefördert. Ihrer Liebe, ihrer Herzensgüte, ihrem Einfühlungsvermögen und ihrer Sanftmut war es zu verdanken, dass ich mich nach unserer Flucht auch ohne Mom an meiner Seite sicher gefühlt hatte. Mrs. Hatzung hatte mir gezeigt, dass ich meinen inneren Schutzwall nicht immer wieder von Neuem aufbauen musste. Und sie hatte mir meinen Stoffhasen zurückgegeben. Da sie wusste, wie sehr ich Mr. Bunny vermisste, bat sie Mom um ein Foto von ihm, das sie an ihre Tochter Mary in Wisconsin schickte. Anhand dieser Vorlage fertigte Mary eine meisterhafte Kopie meines schlaksigen grünen Freundes an. Der neue Mr. Bunny stand dem alten in nichts nach, und vor allem hatte ich in der Zeit ohne ihn gelernt, auf etwas anderes zu vertrauen, das mir Sicherheit bot und das mir niemand wegnehmen konnte – Gottes Wort. Es war sicher kein Zufall, dass Gott mich ausgerechnet in Mrs. Hatzungs Klasse geführt hatte. Er hat mir immer wieder genau im richtigen Moment die richtigen Menschen geschickt.

Das Lied Nr. 332 erfüllte die Kirche: »Go, my children, with my blessing«, Geht, meine Kinder, mit meinem Segen. Sofort begannen wieder die Tränen zu fließen. Das Lied kannte ich gut, aber in der aktuellen Situation erhielten die Worte eine völlig neue Bedeutung. Ich wollte nicht »gehen«. Ich wollte festhalten – an Mrs. Hatzung, an Salem, an meinen Freunden und vor allem an Mom. Sie saß neben mir und weinte noch bitterlicher als ich. Mich plagten Gewissensbisse, ich konnte sie gar nicht ansehen.

Sogar als ich Mom zum Abschied umarmte, konnte ich ihr nicht in die Augen schauen. Keine von uns brachte ein Wort heraus.



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